Kommentierende Worte zur Ausstellung in der Kulturschmiede, 19.4.1996
von Lucas Gehrmann

Der Telearbeiter verlässt die Workstation, würde der Titel des ersten Films der Brüder Lumiére lauten, wenn sie ihn erst heute gedreht hätten.

Der Telearbeiter Armin Bardel verlässt seine Workstation und findet auf seinem Weg durch die Freizeit zwischen Wienflussmauern und Naschmarktstandbrettern den dörrpflaumenartigen Überrest einer Ratte. Im leibeigenen und daher portablen Kopf-Rechner verknüpft Bardel alle vom objet trouvé ausgehenden wahrnehmbaren Informationen mit seiner gespeicherten und höchst komplexen Schlagwörterdatenbank, deren files sich mit sekundenbruchteilschneller Geschwindigkeit öffnen und schliessen. Ein zwischen A wie Aas und Z wie Zynismus gefundenes Textfragment von Baudrillard, in dem von der Unterminierung hochtechnisierter Urbanstrukturen durch Käferkolonien und Rattengesellschaften die Rede ist, löst in Kombination mit Datenschüben aus der Kindheitsgeschichte und Bildsegmenten von Dubuffet bis Kubin den Griff des Finders zum Objekt aus, welches, am Arbeitsplatz des Künstlers angelangt, seine Umkontextualisierung und anschliessende Eingliederung in die Privatsamm1ung Bardelscher Objekte erfährt.

"Die Teekanne macht den Tee, der Rahmen macht das Bild", sagt Armin B., der Rahmen ist wichtig. Der Rahmen der Veranstaltung (ZE) Die einst im öffentlichen Raum situierte wettergedörrte Ratte ist, gerahmt und im Rahmen einer Ausstellung hängend, nun nicht allein den auf "eliminieren" vorprogrammierten Gehirnen der somit in ihrer Denkfreiheit erheblich eingeschränken Bediensteten der städtischen Abteilung für Strassenreinigung ausgesetzt, sondern wird zum Reflexionsgegenstand mehrerer auf "Kunst" eingestellter/programmierter Gehirne mit unterschiedlichem und daher insgesamt höchst komplexem Assoziationspotential, das, da es sich herumgesprochen hat, dass Kunst nicht nur von Können kommt, auch in ähnlicher Weise frei zu werden vermag wie dereinst das Assoziationsvermögen des einzelnen Ratten-Finders. Kommunikations- und interpretationsfreudig wie Ausstellungsbesucher insbesondere während Ausstellungseröffnungen sind, entladen sich die im Austausch sich zu Worten und Gesten formenden Stellungnahmen der einzelnen Betrachter - sei es die Betroffenheit des Nagetierfreundes, das Ekelgefühl des Reinlichkeitsfanatikers oder ein philosophiehistorischer Diskurs über das "interesselose Wohlgefallen" des Kant-Kenners ... nunmehr auf das Objekt und entrücken dieses in Dimensionen fernab von jener, der es im Falle der Nichtbeachtung durch Armin B. entgegengesehen hätte. So, denke ich, kann Kunst entstehen.

"Üblicherweise wird heute die Kunst widerspruchslos am höchsten eingeschätzt," schreibt der Schweizer Medientheoretiker G.J. Lischka, und weiter: "Bei der Definition von Kunst fällt auf, dass sich die meisten Leute an den etablierten Vorstellungen in welchen Medien sich Kunst überhaupt machen lasse, festkrallen. So überwiegen in unserer durch die neuen Medien vollends okkupierten Zeit immer noch die alten Medien als die Kunstmedien, wohingegen die neuen Medien den Alltag bestimmen." (ZE)

Getrocknete, lackierte und gerahmte Naturprodukte sind kunstgeschichtlich selbstverständlich dem Bereich der "alten Medien" zuzuordnen, dem Objektbild etwa, das über den Rückweg zur Collage letztlich von der Malerei herkommt. Ist A.B., der während seiner Telearbeit auf den Datenhighways und -landstrassen zwischen Wien, Massachusetts, Tokyo und San Francisco herumsurft und Veranstaltungen wie "Global Village", "Netz Europa" etc. ko-koordiniert, als Künstler ein Konventionist? Ein mit greifbaren Dingen umgehender Hand-Arbeiter im Ausgleich zur körperlosen Arbeit im elektronischen Raum? Erholung als Kunstmotivation?

Nun hängen hier ja nicht nur tote Ratten herum, sondern wir sehen auch so manche andere Dinge, von denen auch keineswegs alle Fundstücke sind. Selbstportraits zum Beispiel, A.B. in verschiedenen Rollen und face-farces. Es gibt ja auch noch viele Arbeiten der letzten zehn Jahre, die hier nicht präsent sind. Einmal hat mir Armin Bardel zu einem "Kunst und Kommunikations-event" Bilder gefaxt, die aus Copyright-Stempeln samt seinem Namenszug gemacht waren. Wir atmen auf: Fax-Art gehört nicht in den Bereich der "alten Medien".

"Ich mache das, worauf ich gerade Lust habe", sagt Armin B., und ergänzt wenig später mit einem Blick auf den medialen Pluralismus seines Tuns: "Konsequente Inkonsequenz, ständiges Springen von einem zum anderen, beinahe Methode. Ist Konsequenz an sich schon eine Qualität, oder erleichtert sie nur einem orientierungslosen Publikum das Orientieren? Mein Kunstlehrer in der Mittelschule pflegte zu sagen: "Wahnsinn mit Methode! Oder auch: ,Chaos mit System'. - Oder die vollkommene Freiheit, - Beliebigkeit?" (ZE)

"Freiheit" und "Beliebigkeit" sind Worthülsen, ähnlich wie "Zufall", "aus dem Bauch" oder "Spontaneität". Sie dienen lediglich der Mystifizierung irgendeines Tuns, so auch der Mystifizierung von Kunst. Wir wissen zwar oft nicht, weshalb wir etwas tun, tun es aber. Handlung ist Resultat einer Entscheidung. Nur weil wir die Software nicht kennen, mit deren Hilfe das Gehirn Entscheidungen fällt, substituieren wir diese Unkenntnis durch Worthülsen. Aber wir spüren, dass diese uns nicht ganz befriedigen und suchen dann doch nach irgendwelchen Beweggründen, Motiven, Zusammenhängen, Erklärungen. Kriminologen, Psychoanalytiker und Kunsthistoriker zum Beispiel tun ihr ganzes Leben lang nichts anderes, als nach den Ursachen von Handlungen diverser Menschen zu suchen. Man nennt das auch Forschung. Natürlich kennen auch diese Forscher die Software nicht und müssen sich daher mit Konstruktionen behelfen, die auf vergleichenden Betrachtungen beruhen. Ich vergleiche zum Beispiel Armin Bardels Ausstellung hier, aber auch seine Wohnung, mit dem, was ich an Kunst- und Wunderkammern des 17. und 18.Jahrhunderts gesehen habe und von ihnen weiss. Ich orte daher als Eigenheiten oder Motive, die der vermeintlich chaotischen Methode Armin Bardels zugrundeliegen, als hauptsächlich wichtige die folgenden drei: 1. einen ausgeprägten Sammlertrieb, 2. die Suche nach dem Gemeinsamen im Unterschiedlichen, und 3. den Drang zur Bestimmung des eigenen Ortes und damit zur Selbsterkenntnis.

In der von Peter Greenaway vor einigen Jahren gezeigten Ausstellung mit dem Titel "100 Objekte, die die Welt beschreiben", waren 99 verschiedenartige Gegenstände in jeweils 10 bis l00facher und oft variantenreicher Vielfalt zusammengestellt. Man konnte dort z.B. 100 verschiedene Ventilatorentypen, fein säuberlich und sozusagen enzyklopädisch angeordnet, bewundern. Jeder dieser 99 Gegenstände stand für einen Begriff, der in unserer Welt von Bedeutung ist - der Ventilator z.B. repräsentierte also den "Wind".

Einen Begriff gab es, den l00sten, der nur durch einen einzigen Gegenstand vertreten war: die Kunst. Der Gegenstand war ein mit Gold und Edelsteinen kostbar gefasster Bezoar aus der Prager Kunst- und Wunderkammer Rudolphs IV., ein Magenstein also der westasiatischen Bezoarziege, dem nachgesagt wurde, dass er Vergiftungen vorbeuge und der bei Festbanketten daher meist Teil des Tafelschmucks unweit des Gedecks des Kaisers war. Da andere Fürsten Dinge dieser Art ebenfalls schätzten, dienten Kunst- und Wunderkammerstücke gerne auch als diplomatische Geschenke, und so manches Nashorn- oder Einhorn-Horn wird den Verlauf unserer Geschichte stärker mitbestimmt haben als viele überzeugende Minister-Worte.

Ob das wohl etwas mit der künstlerischen Arbeit Armin Bardels zu tun hat?

In Wien gibt es eine sehr schöne Negation auf die Frage, ob etwas so oder so sei. Sie lautet nicht "nein", sondern: "nicht wirklich".


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