Armin Bardel
Res Publica
verfaßt für den Sterz Nr. 84 (nicht veröffentlicht)

"a little pitted speck in garnered fruit
that, rotting inward, slowly moulders all."
(Oscar Wilde, Teleny)

jede fäulnis benötigt substrat. ist der herd auch noch so klein - auf fruchtbarem boden wuchert üppig der magerste keim.

öffentlichkeit
      "die sache ist öffentlich, der staat eine öffentliche anstalt zur befriedigung der bedürfnisse seiner bürger. die einen haben das bedürfnis zu herrschen (sadisten). andere wollen lieber beherrscht werden (masochisten). dann gibt es noch die, die zwar nicht herrschen, aber dennoch nach oben oder zumindest von oben anerkannt werden wollen, und daher allen, die über ihnen stehen, in den hintern kriechen (sado-masochisten). für sie alle ist platz in einem staat. wie eine bedürfnisanstalt kann er von allen benutzt werden, die das bedürfnis haben, ihre geschäfte öffentlich zu verrichten, sich in seine (des staates), also die angelegenheiten anderer - nämlich aller - einzumischen. jeder kann mal, und wer nicht will, sowieso. das dilemma: nicht alle können zugleich (regieren) und viele, die es tun, wissen nicht so genau, was sie da eigentlich tun.

      "in einer zeit, wo ziemlich alles, zumindest ziemlich viel (zu viel) öffentlich ist, verkommt die 'res publica' zur 'res popularis', einer medialen pop-politik. während allerdings die öffentlichkeit gebannt auf die strahlenden leuchten starrt und im blendenden schein sich weidet, ereignen sich dinge im schatten, weitgehend unbeeinflusst durch jeglichen zugriff von aussen.

      "das gegenteil von 'res publica' ist die 'res intima', die privatangelegenheit oder intimsphäre. das, was niemand anderen etwas angeht . gerade dieser bereich ist nun endgültig dabei, von der öffentlichkeit erobert zu werden. gibt es doch allemal nichts spannenderes, als die privatesten geheimnisse - insbesondere jene sehr bekannter persönlichkeiten - zu lüften. wo man der glatten schale nichts anhaben kann, gilt es in die tiefe zu gehen, vertikal oder horizontal, je tiefer umso besser. dennoch drängt sich der verdacht auf, dass bei weitem nicht alles wirklich wissenswerte an die oberfläche dringt. je mehr (öffentlich) bekannt ist, umso unwahrscheinlicher scheint es, dass etwas verborgen bleibt, umso mehr lässt sich unauffällig verbergen.

gesellschaft formen, herdentrieb
      ordnung, chaos, (un)gerichtete energie. amöbe gesellschaft. formlose masse. eine amorphe menge von menschen will geformt werden.

"eine gesellschaft wie eine plastik formen" (beuys)
den volkskörper formen,
der (fassungslosen) perle
eine fassung geben,
ob sie will oder nicht
(die perle wird dankbar sein. die muschel entsorgt.)

      banale fakten am rande, marginalien, lenken ab vom wesentlichen, vom grösseren ganzen. das wirklich grosse lässt kleinigkeiten wie von selbst verschwinden (ungeachtet dessen, dass alles grosse aus kleineren teilen besteht). soziologisches zufallsprinzip: ein windstoss blässt in einen berg von staub. zufällig umherirrende teilchen klumpen hie & da zusammen, taumeln dort- oder dahin. die zutaten mischen, kneten, gehen lassen, zusammenschlagen. einen klumpen teig oder lehm, im ofen backen, brennen. mit irgendetwas füllen, dann zerschlagen oder scheibchenweise abschneiden und auffressen, zerkrümeln und den tauben füttern.

      "organisationen, vereine, parteien, etc. - gesellschaftliche knödel, klumpen, anhäufungen von partikeln mit ähnlichen oder gar keinen eigenschaften, kristallisieren, scharen sich um einen kern, wachsen oder schrumpfen, keimen oder spalten sich. je grösser der k., umso eher bleibt man daran kleben, versperrt er den weg, den freien fluss.

      "öffentliche plätze der debatten, diskussionen, entscheidungen sind übervölkert. im tumult geht alles unter, man versteht kein wort. wer sich gehör verschaffen will, der brüllt. willkür entscheidet. individueller wille oder launen chaotischer individuen lassen sich spielend steuern durch stärkeren willen. vorne, am steuer sitzt ein kleines häufchen, alle paar jahre (legislaturperiode) oder häufiger ein - mehr oder weniger - anderes. hintennach trottet gehorsam die schweigende, manchmal murrende, seltener aufmucksende horde . eine herde schwarzer schafe & der bock an der spitze trägt die sünden mit genugtuung.

die herde rennt.
wer pennt
wird abgetrennt.

      "trägheit der masse, naturgesetzt, eugendynamik (kommt sie erst einmal in schwung ... ): die herde rennt einem leithammel nach, und wenn der es wagt stehenzubleiben, rennt sie trotzdem weiter und über ihn drüber. es bleibt ihm also gar nichts anderes übrig, als vor ihr her, voran zu rennen. dabei ist es hinsichtlich ihrer motivation ziemlich wurscht, um welche art von hammel oder herde es sich handelt, oder welcher rasse die tierchen sind. weniger gleichgültig ist die marschrichtung.

tabu, macht & ethos
      "man soll seine gegner niemals unterschätzen und immer mit dem schlimmsten rechnen. nachher kann man sich ja freuen, wenn es besser ging als befürchtet (umgekehrt wäre es weniger erfreulich). sie dabei auch nicht überschätzen, überhöhen, ihnen mehr bedeutung, macht, gewicht etc. verleihen, als sie wert sind & verdienen. sonst sind sie bald und ungewollt auf ein podest gehoben, von dem herab sie tatsächlich grösser wirken als sie sind.

      ""nie wieder" heisst die parole, und jetzt erst recht nie wieder. sie sitzen im glashaus und werfen mit steinen auf jene im glashaus nebenan. wenn erst alles glas zu bruch gegangen, fällt das werfen leichter. jede mücke zum elephanten machen, damit das ziel auch gross genug ist, um es mit dürftigen geschossen zu treffen. die elephanten rennen vor der maus davon. es ist das unangenehme an den kleinen biestern, dass sie so schwer zu bekämpfen sind. ergo: wenn es ernst wird, schweigt man lieber. es könnte peinlich sein, im richtigen moment das falsche zu sagen (den falschen gedanken kundzutun). die aufrechten braven bürger, wähler, steuerzahler sind ohnehin der parasitären mahner müde, erschlagen sie und treiben weiter unsinn, bevorzugt ungestört, getrieben vom ehrgeiz, es sich selbst zu beweisen, selber draufzukommen und sich von anderen nichts sagen zu lassen oder zumindest selbst zu entscheiden, von wem man sich diktieren lässt. einfach im glauben resp. überzeugt von der richtigkeit seines handelns.

      "wenn ersteinmal die tabus gebrochen, die hemmschwellen überwunden sind, können sich die triebe frei entfalten. der exzess ist nicht die abweichung von der norm, sondern lediglich das vordringen des ansonsten verborgenen gewöhnlichen aus dem tiefsten inneren an die oberfläche; ein ureigenes bedürfnis jedes menschen, das von zeit zu zeit entladung sucht. der exzess ist ein genuss mit allen kosequenzen.

macht & ohnmacht
      "mit macht &/oder ohne, mitmachen oder nicht? wo liegt der unterschied zwischen ohnmacht, unwillen und tatsächlicher unfähigkeit zu handeln? die feststellung der (eigenen) schwäche dient nur zur beruhigung des schlechten gewissens, nichts zu tun. gegenüber den kleinen übeln sind die kleinen leute gross genug, um sich über ihre massen zu äussern. gegenüber grossen übeln oder übl(er)en grossen gibt man sich lieber geschlagen. es macht wenig spass - und ebensowenig sinn - zu handeln, wenn der zweck der handlung absehbar nicht erfüllt wird.

die qual der wahl
      "wenn wahlen wirklich etwas verändern würden, wären sie längst verboten" (graffiti am Hamburger Elbstrand)

wenn wir wirklich eine wahl hätten ...

      das problem ist nicht, dass menschen die falsche gesinnung oder einstellung haben. schlimmer ist die völlige gesinnungslosigkeit: nicht einmal ein schlechtes gewissen, sondern gar keines (zumindest in politischer hinsicht). orientierungslos dem nächstbesten nachzurennen ist folglich die einzige alternative. wenn soundsoviele menschen die 'falsche' partei wählen, heisst das nicht, dass sie vorher die richtige partei gewählt haben oder dass irgendeine partei die richtige wäre. das problem liegt im prinzip. keine partei ist makellos und schon gar nicht ihre vertreter. wo steht geschrieben, dass die besten als kandidaten auserwählt werden? die führenden köpfe der gesellschaft sind nicht unbedingt die hellsten oder charakterliche leuchten, im gegenteil: ein grösseres mass davon scheint geradezu hinderlich zu sein.

      "das mass der demokratie ist die masse. die gilt es zu gewinnen. der unterschied zwischen qualität & quantität ist der, dass sich qualität nicht in zahlen messen lässt. selbst die überwältigende mehrheit kann irren. menschen sind leicht zu verführen, wähler leicht in die irre zu führen. der bildungsgrad der wähler korreliert (lt. statistik) deutlich mit der partei ihrer wahl. fragt sich nur, ob der umgekehrte schluss ebenfalls zulässig ist, nämlich vom verhalten der wähler auf deren geistigen horizont? und selbst die beste qualifikation der wählerInnen erleichtert nicht die qual der wahl, wenn das angebot der nachfrage nicht genügt. aber vielleicht entspricht gerade das derzeitige angebot der aktuellen nachfrage.

utopie & ideale
      "die republik eine staatsform von vielen und in vielen formen selbst, lange (nur) ein traum. der traum wurde wirklichkeit, doch die wirklichkeit ist selten traumhaft und hat so ihre tücken. die beste aller möglichen welten ist noch lange nicht gut (genug). möglich wäre anderes, zumindest denkbar. aber offensichtlich scheitert die realisierung der ideale an irgendwelchen heimtückisch banalen faktoren.

      "die welt ist nicht wie sie sein sollte. wir haben (viel) zu wenig spass. und was viele als solchen empfinden, ist ganz & gar nicht lustig. wer weiss & sagt, was richtig ist, wer im besitz der wahrheit ist, oder glaubt oder vorgibt, es zu sein, war schon immer suspekt. viele sagen die wahrheit und jeder sagt was anderes.

verbalhygiene logorrhoe
verbaler putzdienst:
saubere worte verwenden,
durch rede reinigen -
rhetorische katharsis
wortspenden bewirken eine besserung des zustandes!

      "anstatt zu tun einfach sagen, was zu tun ist oder wäre, und es andere tun, die drecksarbeit erledigen lassen. arbeitsteilung, so wie es sich gehört - delegation. die einen wissen, wie es geht, und begnügen sich mit ihrem wissen, selbst zufrieden & bescheiden. die anderen wissen es vielleicht nicht, aber handeln umso eifriger.

      "worte ausgekotzt, alles kommt hoch, halb zerkaut & halb verdaut, kehrt marsch in schüben in verkehrter richtung mit weit geöffnetem maul auf die gasse ergossen. verbale kotzbrocken überschwemmen den boulevard . passanten laben sich genussvoll an lachen lachhaften gelabers. wer das maul am weitesten aufreisst hat gewonnen.

worte & taten ...
worte schmeicheln, etc.,
worte tun weh.
worte werden überhört
& andere geleugnet.
an taten messen
& worte vergessen.

      ""honi soit qui mal y pense", oder garnicht denken ist angesichts der tatsachen resp. in anbetracht dessen, was wir vermögen (zu denken & tun), eh das gescheideste (s. ohnmacht!).

      ""die wahrheit ist den menschen zumutbar."(J.H. nach I.B.) die wahrheit ist eine zumutung (s. wahrheit!). man muss den tatsachen ins auge sehen, sich gewisse dinge nur oft & lange genug ansehen, irgendwann gewinnt man sie schon lieb. man gewöhnt sich an alles. positiv denken, alles halb so schlimm! die dinge scheinen nicht so, wie sie sind. das sein trügt, wissen wir schon lange. und der trug scheint weit in dunkler nacht. ein licht erstrahlt am horizont. was dazwischen liegt, in der tiefschwarzen finsternis, ist eine sache der interpretation. paradies oder abgrund. den einen erklären, dass alles nicht so schlimm ist, den anderen, dass es wesentlich schlimmer ist als gemeinhin angenommen.
kaum jemals wird eine sache als ganzes & von allen seiten angesehen, gedacht nur bis zum nächsten ('notwendigen') schritt. das der nicht notwendig bzw. alles andere als sinnvoll war, könnte sich schon beim übernächsten herausstellen. wenn es um rückschritte geht, waren manche schon immer ihrer zeit voraus.

geschichte
      "aus der geschichte gäbe es viel zu lernen (aber wer will schon was lernen?). sie erteilt denkzettel erst im nachhinein. aus der geschichte lernen wie aus fehlern: man muss sie erst begehen, damit es wirkt und nichteinmal dann ist die wirkung garantiert, schon garnicht nachhaltig - nach ein paar jahrzehnten bzw. generationen vergessen und die probe aufs exempel muss von neuem gemacht werden. ausserdem ist es immer noch eine frage der sichtweise, ob & welche schlüsse gezogen werden. dass die täter & die opfer nicht immer so leicht auseinanderzuhalten und die am meisten draufzahlen selten ident sind mit den verantwortlichen, sprich: geschichte erfahrungsgemäss alles andere als ausgleichende gerechtigkeit walten lässt, führt dabei zu einer gewissen verzerrung der erkenntnis.

      "geschichte ereignet sich nicht zweimal in gleicher weise. wenn auch immer wieder dasselbe passiert, so sieht es doch jedesmal anders aus. das ende der geschichte wäre (noch lange nicht) das ende der welt. schlimmer als ihr ende ist ihre fortsetzung in der weise, wie sie bisher stattgefunden hat und bis heute stattfindet.
der vorwurf an die ältere generation erübrigt sich. die jüngere ist nicht viel besser. in der rasanz der veränderung bleibt wesentliches liegen. noch bevor das erbe verteilt ist, ist die nächste generation schon wieder verdorben. angesichts dessen, was wir mittlerweile gelernt haben könnten, haben wir nichts gelernt. wir wissen nicht viel, bzw. wissen wir zwar vieles, doch handeln ungern danach.

da capo
      "hypothese: und plötzlich ist wieder einmal krieg (oder sowas ähnliches) und alle gehen hin, auch die, die vorher gemeint haben, sie würden sowas niemals tun. (wir) alle haben gewusst, dass es irgendwann kommen würde. wir wussten: es wird wieder kommen. also musste es kommen. kam es, weil wir dran glaubten, oder glaubten, nichts dagegen tun zu können? oder weil wir aus genau diesem glauben heraus es unterlassen haben, etwas zu tun?

al fine
      "glauben, alles sei vorbei, alles wesentliche schon gewesen - nichts kommt mehr? was jüngst geschah und immer wieder, hat uns dennoch verblüfft. nicht dass es wirklich neu oder überraschend wäre. natürlich: die situation ist anders. uniformierte übeltäter sind rar - oder harmlos, alt & senil oder tot. doch ihre sporen schlummern nur. erst im rückblick oder aus der ferne sind die bösen ganz deutlich erkennbar. die in den eigenen reihen sieht man als letztes, nur nach bedarf oder gar nicht. die helden von heute verkleiden sich unauffällig. sie sehen aus wie wir, erscheinen zeitgemäss. sie sprechen unsere sprache. sie verwenden unsere worte. sie sagen, was wir denken. wir denken, was sie sagen. sie denken wie wir oder wir wie sie. sie sprechen uns nach dem mund. am ende herrscht völlige zustimmung. gerade das sollte sie als verdächtige auszeichnen. wir wissen nicht einmal, ob wir nicht selbst zu ihnen gehören, oder ob wir es sind, die ihnen auf die beine helfen, selbst in ihrer ablehnung.

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